Vergittern wir doch einfach das Leben

Was folgt ist im Idealfall eine nüchterne Betrachtung nach den Unfällen der letzten beiden Wochen in denen mehr oder weniger direkt die Würzburger Straßenbahnen involviert waren. Eigentlich ja nur indirekt, da sie bei beiden Unfällen direkt nichts mit den Vorkommnissen zu tun hätten. Es soll auch nicht respektlos gegenüber den Angehörigen sein, denen mein tiefstes Mitgefühl gilt, sondern gegen die, die am lautesten schreien wenn man eigentlich inne halten sollte.

Heute ist es also wieder passiert. Schauplatz war wieder eine Straßenbahnhaltestelle. Opfer wieder ein Kind. Diesmal „nur“ schwer verletzt und nicht tödlich. Aber das Geschrei ist natürlich gleich wieder groß, besonders im Forum der Lokalpresse. Besonders weil es eben der zweite Vorfall innerhalb kurzer Zeit ist und eben erst Recht, weil Kinder im Spiel sind. Von Haus aus ein sehr emotionsbeladenes Thema. Eigentlich wollte ich ja nichts dazu sagen oder schreiben, weil ich, wahrscheinlich für viele, eine eher unpopuläre Meinung zu dem Ganzen habe.

Der Vorfall mit dem tödlichen Unfall ist ziemlich an mir vorbeigegangen. Muss ich ganz offen zugeben. Zumindest zuerst. Beim Durchzappen bin ich dann Tags drauf bei einer betroffenen Schulleiterin im Boulevard-Magazin der ARD hängen geblieben. Traditionell der Ort, wo Q-Z-Promis von ihrer Busen-OP berichten oder von einem tragischen Verkehrsunfall in Hinterwaldstatten ohne nennenswerte Bedeutung berichtet wird. Jetzt also die Schulleiterin der Schule des verunglückten Mädchens. Medienwirksam sitzen da Schulpsychologen, -pädagogen und -leitung an einem Tisch und schauen betroffen in die Kamera und erzählen, dass man in den nächsten Tagen, viel reden werde und für die Schüler da sein werde. In diesem Moment dachte ich mir:

Muss das sein?

Da macht man einen auf betroffen, aber hat nichts besseres zu tun, als am nächsten Tag sein Gesicht in die Kamera zu halten? Sollte man an dieser Stelle nicht eher für die Kinder da sein und den Medien die kalte Schulter zeigen?

Schöner wurde dann nur die folgende Diskussion in der lokalen Presse. Aus Rücksichtnahme vor den Angehörigen hatte man in den Artikeln zum Unfall die Kommentarfunktion deaktiviert. Einige Kommentatoren dort lassen erkennen, warum mancher eindeutig für eine Klarnamenpflicht ist und einem gleichsetzen der Kommentare mit Leserbriefen. Wer dort Niveau sucht, kann manchmal lange suchen. In so fern, sinnvolle Aktion…

…die leider Konsequenz vermissen ließ. Denn der Artikel, der sich um die Haltestelle und die Rolle der WVV drehte, der war frei. Frei für geistige Ergüsse bei denen ich teilweise das Gefühl hätte, dass ich mich in die Tastatur ergießen muss. Schnell war nämlich klar dass hier nur einer Schuld ist:

Die WVV mit ihrem Sparwillen für die neue Linie 6 bringt unsere Kinder mit unsicheren Haltestellen um. Sonst wären da längst Gitter…

Jaja… Gitter! Ich komm da später noch drauf…

Heute knallt es dann wieder. Anderes Ende der Stadt, wieder ein Kind, wieder eine Haltestelle der WVV. Diesmal wollte das 10jährige Mädchen noch die wartende Straßenbahn erreichen. Um 6:45. Ich kenne die Stelle, ich kenne die Straße. Ja, man wird da schon teilweise recht forsch überholt aber ich habe in all den Jahren noch nicht erlebt, dass dort jemand über die rote Ampel gebrettert ist. Selber habe ich aber schon öfter erlebt, dass kleine und große Kinder blind Richtung Straßenbahn rennen ohne Rücksicht auf die Ampel, was an dieser Haltestelle eine dumme Idee ist, da man entweder direkt aus einer engen Gasse aus einem Wohngebiet kommt oder aus einer gar nicht einsehbaren Eisenbahnunterführung. Da kannst du 30 fahren und hast keine Chance als Autofahrer.

Und in den Kommentaren so: Wir brauchen Gitter, böse WVV. Wahrscheinlich ist da noch keiner von den Kommentatoren zu Schul- und Arbeitszeiten lang gefahren, sondern kennt das nur vom Nachbar seiner Bekannten deren Schwester usw.

Also zu den Gittern… aber vorher noch zur „bösen“ WVV. Warum eigentlich böse WVV? Weil sich beide Unfälle an einer Straßenbahnhaltestelle abgespielt haben? Das Kind heute ist zur Haltestelle gelaufen, also wäre der korrektere Gegner doch die Stadt, die nicht durchgehend alle Fußgängerwege entlang von Straßen vergittert. Wenn mir am Bahnhof der Koffer geklaut wird oder ich von einem Besoffenen eine auf die Nase bekomme, dann ist ja auch nicht die Bahn Schuld nur weil es auf deren Gelände passiert ist. Wird das nächste Mal jemand auf einem Parkplatz erschossen ist dann der Parkplatzbesitzer Schuld?

Dann ist es sicher tragisch, wenn es zweimal innerhalb einer so kurzen Zeitspanne passiert. Aber ich wette, dass einige derer, die jetzt laut schreien, Abends vor dem Fernseher sitzen und fasziniert eine Doku über Unfallermittler schauen oder gespannt die Arbeit der Polizei verfolgen. Und warum muss man jetzt diesen Fall so aufbauschen? Ich zitiere aus der Unfallstatistik des Landes Bayern: 2010 insgesamt 697 Verkehrstote und davon 89 Fussgänger. Und das eben nur in Bayern.

Es ist tragisch für die Eltern und man sollte sie unterstützen wo es geht, statt hier eine Diskussion aufzubauschen die, aus meiner Sicht nur eines zeigt: Verkehrserziehung eher mangelhaft. Wenn sich alle so traumhaft vorbildlich verhalten, frage ich mich, wo die herkommen, die den Stadtring und die Heuchelhofauffahrt für eine Rennstrecke halten. Per se wahrscheinlich „immer die anderen“.

Und, meine Güte, wer von den Kommentatoren hat denn bitte in seiner Kindheit oder Jugend nicht irgendeinen Scheiß gemacht, bei dem man rückblickend sagt: Junge, Junge… das war knapp. Das hätte auch ganz anders ausgehen können. So ist es eben im Leben 999 Mal geht’s gut und einmal schief. Und wenn dann eben alles dumm zusammenkommt eben richtig schief. Aber all das hätte-wäre-wenn bringt eben nichts.

Deswegen stürzt man sich jetzt ja auf die Gitter. Göttliches Allheilmittel für alle Haltestellen!

Mein Leben und die Gitter. Denn es gibt sie ja in Würzburg. An Haltestellen, die besonders gefährdet sind und wo viele Kinder unterwegs sind. So zum Beispiel an der Straßenbahnhaltestelle an der Volksschule Heuchelhof. Beidseitig eingezäunt und eigentlich nur über die Brücke oder eben per Ampel zu erreichen. Ja, von wegen… Wenn Kinder schnell heim wollen oder Langeweile haben oder eben schnell zu Bahn wollen. Dann mutiert so ein schützendes Gitter zu einem Parcours-Hindernis oder zu einer Turnstange, dass einem als Autofahrer Angst und Bange wird. „Sicher“ dass mir da keiner vor oder auf die Haube springt bin ich mir da als Autofahrer nicht.

Noch schöner ist die Haltestelle direkt vor oder nach der heutigen Unfallstelle: Auch in der Andreas-Grieser-Straße hat man sich Gedanken um die Sicherheit gemacht. Damit da keiner „mal schnell“ aus der Bahn über die Fahrbahn rennt, hat man in östlicher Richtung Gitter angebracht. Theoretisch gibt es nur einen Weg die StraBa-Insel zu verlassen: Über eine Ampel an der Ecke Stuttgarter Straße und Eisenbahnstraße. Der aufmerksame Leser stolpert hier schon über das Wörtchen „theoretisch“. Der faule Fußgänger an sich, der ja schnell gen Heimat oder Arbeit möchte, spart sich dort nämlich, wenn er nach Heidingsfeld und nicht in die Eisenbahnstraße will, die 20 Meter zur Ampel und zurück auf dem eigentlich vorgesehen Weg. Der faule Fußgänger jeden Alters läuft bis zum Ende des Gitters, trampelt zwei Schritte durch die Botanik oder quetscht sich durchs Gitter und überquert die zweispurige Straße in Richtung Innenstadt. In einer unübersichtlichen Linkskurve, die auch noch leicht bergauf geht. Der faule Fußgänger, dessen Sicht durch das Gitter und die Haltestellebebauung auf die Straße eingeschränkt ist, steht dann gerne mal vor einem Kühlergrill mit quietschenden Bremsen. Ein mindestens genauso schönes Highlight ist die gitterlose Gegenrichtung mit der Bushaltestelle in der Kurve. Da wird auch gern mal blind losgerannt Richtung wartende Straßenbahn. Und die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist eben eine Gerade. Die wird genommen. Über die noch unübersichtlichere Linkskurve stadtauswärts. Ein Glück hier ist, dass eh schon jeder vom Gas geht, weil er nicht weiß ob nicht an der Ampel nach der Kurve rot ist und er dem Hintermann im Kofferraum steckt.

Was ich damit sagen will:

  1. So tragisch die Unglücke sind – Gitter sind in meinen Augen keine Lösung. Wenn die Dinger mich am erreichen meiner Bahn hindern und mir schon egal ist, dass die Ampel 10 Meter weiter rot ist, dann sind Gitter keine Lösung.
  2. Kinder machen Blödsinn! Immer! 999 geht es gut, beim 1000. Mal geht es schief. Wer von sich sagen kann, dass er in seiner Jugend keinen Scheiß gemacht hat, der tut mir leid. Ich komm vom Dorf – Wir haben scheiß gemacht! Seien es nun Böller oder mit dem Schlitten auf dem Rücken über die vereiste Hauptstraße oder mit dem Chemiebaukasten im Keller. Wir! Haben! Das! Gemacht!
    Wir haben uns auch an der Bushaltestelle gekappelt und Blödsinn gemacht. Fragen sie mal die Schülerlotsen. Mit dem Unterschied: Bei uns ist eben keiner über- oder angefahren worden. Wir haben zu den 999 gehört.

Kinder sind nun mal Kinder und das Leben ist eben das Leben!  Da helfen auch keine Gitter.

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4 Comments

  1. Absolut richtig. Dem ist nichts hinzuzufügen, außer, dass die Energie und die Zeit, die jetzt aufs Verteufeln der WVV und die Forderung nach Einführung von umfassender Vergitterung gesteckt wird, besser in ein Gespräch mit Kindern investiert werden würde, um nochmals auf die Gefahren und Risiken unbedachten Verhaltens im Straßenverkehr hinzuweisen.

  2. Sehr gut, sprichst mir aus der Seele. Habe mir auch schon überlegt, ob die WVV jetzt alles einzäunen soll, damit das nicht mehr geschieht. Dieser dämliche Aktionismus ist wohl das, was Neigschmeggde gerne als typisch deutsch bezeichnen.

  3. Blinder Aktionismus an den falschen Stellen, wir immer halt. Das Leben ist nunmal scheisse und Menschen sterben. Aber Hauptsache niemand muss mitdenken…

    • Die Zusammenfassung in der Zeitung heute war schon ganz interessant, was so passiert ist in den letzten Tagen:
      – 8jähriger steigt bei Mama aus dem Auto und läuft gegen die Seite eines fahrenden Autos, weil er’s nicht gesehen hat
      – Kind wird angefahren weil es bei Rot über die Ampel gerannt ist
      – und bei der 10jährigen ist immer noch nicht klar, wer denn da grün hatte.

      Rote Ampel interessiert auch nicht, wie die Polizei in der Stadt festgestellt hat. Standen neben der Ampel und die Schüler sind trotzdem bei rot rüber

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