Boomtown

Boomtown

In Zeiten von Relotius schaut man ja jetzt ganz anders auf Artikel. Besonders wenn es sich um Berichte aus fernen Ländern über beschauliche Städte handelt. Noch dazu garniert mit einem Hauch Herzschmerz und persönlichen Schicksalen.

Ich habe heute zumindest erstmal vorsichtig zu Hause nachgefragt, ob mir seit dem letzten Besuch was entgangen sei. Die SZ erklärt nämlich Lohr zu nichts geringerem als dem „Zentrum des Booms„.

Mir scheint da doch was entgangen zu sein. Die Weinberge zum Beispiel. Wer kennt sie nicht, an den waldigen Hängen des Spessarts. Ja, bei meinen Eltern im Garten stehen ein paar Reben und in Sendelbach gab es vor langer Zeit mal Weinberge. Aber bei weitem nicht so prängend wie weiter Main-aufwärts oder -abwärts. Und Lohr ist dann doch eher für Holz bekannt als für Wein.

Dann redet er auch von den vielen Arbeitsplätzen, scheint da aber auch nur grobe Zahlen bekommen zu haben. Wie viele der Arbeitsplätze auf einen oder zwei große Player entfallen, lässt der Autor unter den Tisch fallen oder hat es eben nicht recherchiert und stattdessen den Blick vom Schloss auf den größten Arbeitgeber der Region genossen. Stand 2017 waren da 5300 Menschen beschäftigt. Die Zahl dürfte nach der damaligen Ankündigung 500 Stellen abzubauen aber drastisch nach unten gegangen sein. Aber auch damals dürfte das einen Anteil von einem Drittel der Arbeitsplätze in Lohr gewesen sein. Vom Speckgürtel der Betriebe, die sich im Umfeld angesiedelt haben und Dienstleistungen erbringen mal gar nicht zu reden.

Die tollen Arbeitsmarktzahlen in Lohr sind also kein Verdienst der Stadt oder der breit gefächterten Wirtschaft sondern gewissermaßen ein fremdbestimmtes Geschenk aus der Bosch-Konzernzentrale in Stuttgart. Sollte man da beschließen, dass wo anders (verkehrs-)günstiger produziert werden kann, dürfte die Beschaulichkeit in der Arbeitsagentur in Lohr ganz schnell ein Ende haben. Aber warum sollte man das auch recherchieren. Ein Bürgermeister wird da sicher nicht drauf hinweisen. Passt eben nicht in das Bild der provinziellen Idylle der Vollbeschäftigung.

Gleiches gilt für die Stadthalle, die in zwei Halbsätzen erwähnt wird. War da nicht was mit zu lange geplant, teurer als geplant und gerüchteweise hört man dass sich der Laden nicht trägt? Hat man nicht im September letzten Jahres erst von einem täglichen Defizit von 1800 € gesprochen? Ohne die Abschreibung auf die 20 Millionen € teure Halle?

Die Orchester, die angesprochen werden, freuen sich sicher auch über volles Haus. Dummerweise die Klimaanlage nicht. Da hab ich schon gehört, dass die sich bei zu vielen Leuten deutlich bemerkbar mache, aber man da halt nichts machen könne. Auch hier ist wieder klar, warum der Bürgermeister den Autor nicht mit der Nase drauf stößt. Aber wenn der Autor schon in Lohr ist, hätte er ja mal mit ein paar Einheimischen reden können. Also abseits der Eingangs erwähnten rührseligen Geschichte von der Arbeitsagentur, die wirkt als wäre er hautnah dabei gewesen. Gab es da nicht gerade erst was beim Spiegel…?

Aber zum Glück kann dem Mann geholfen werden. Nicht nur medizinisch sondern man hat bei der Agentur auch noch einen Job für ihn gefunden. Also nicht in Lohr sondern halt im Nachbarort. Aber da könne er ja mit dem Bus hinfahren. Muss er halt Zeit mitbringen. Und am Wochenende sollte er das eher nicht probieren. Mir klingen in anderem Zusammenhang Sätze im Ohr wie „Ich muss bis 13 Uhr wieder in Lohr sein, sonst fährt kein Bus mehr“. Richtig, wenn man um 16 Uhr am Samstag von der Shoppingtour aus der Stadt zurückkommt, dann fährt der nächste Bus unter Umständen erst um 6 Uhr am Montag.

Genauso wie vor 15 Jahren ist man ohne Auto einfach aufgeschmissen. Gerade auf den umliegenden Käffern, die ja von Halsbach über Ruppertshütten und Pflochsbach immer noch zu Lohr gehören.

Und auch wenn Eberhard Sinner auf Twitter „von nur eine Stunde bis nach Frankfurt“ schwärmt: Von der einen Stunde ist man, je nach Abfahrt, 20-30 Minuten auf der Landstraße durch den Spessart unterwegs bis man in Lohr ist. Wenn man ab Rohrbrunn einen LKW vor sich hat, dann halt eher länger. Ich hatte da schon Mitfahrer mit großen Augen, die ich vom ICE in Aschaffenburg abgeholt habe, wo denn all der Wald herkäme. Und auch eine gewisse Sorge, dass da keine Zivilisation mehr kommt. Man kann es ihnen nicht übel nehmen, ist doch ab Laufach auf der B26 erstmal für lange Zeit Schluss mit Zivilisation.

So viel dazu was der Autor alles mit relativ wenig Aufwand hätte recherchieren können… wenn dann nicht noch die handwerklichen Fehler dazu kämen. Denn so ganz einig scheint er sich selber nicht zu sein, was er dann nun als Fokus hat: Lohr mit seinen Beschäftigten und als Boomtown oder die niedrige Arbeitslosenquote im Landkreise Main-Spessart, zu dem auch Marktheidenfeld zählt. Dort kann man von der Autobahn direkt das Industriegebiet sehen, das fleißig wächst. Und eben direkt neben der Autobahn liegt.

Man darf mich da jetzt nicht falsch verstehen: Ich mag Lohr. Immer noch. Den Berg aus Richtung Würzburg runterzukommen ist immer der Moment, wo sich das Heimatgefühl einstellt. Ich mag es auch, alle paar Jahre mal durch die Stadt zu bummeln und zu schauen was noch da ist und was sich verändert hat. Wir hatten vom besucherischen Aspekt aber schon nach einer Stunde Probleme, mehr anzusehen, wenn man nicht die zahlreichen Museen besucht.

Es mag jetzt kleinlich klingen, aber ich bevorzuge dann doch lieber eine etwas höhere Arbeitslosenquote, wenn die Infrastruktur und das Angebot etwas breiter gefächter sind. So oder so ist und war Lohr für mich noch ein wirtschaftliches Boomtown. Vielleicht hätte man statt mit den offiziellen Stellen zu reden und nur deren Marketingsprech nachzuplappern mal mit den Einheimischen reden sollen. Gerüchteweise arbeitet sogar jemand aus dem Lohrer Dunstkreis bei der Süddeutschen.

Aber was wissen die schon… so liest sich die Geschicht mit Happy End doch viel schöner.

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